Mit Paidtime bezahlen nach Lesezeit: So funktioniert das Taxameter für gute Inhalte
0Ein Bezahlsystem, das nach Lesezeit abrechnet? Haben das nicht Flattr und Eyeo schon 2016 angekündigt? Nur Flattr Plus gibt es bis heute nicht. Dafür ging im selben Jahr Paidtime an den Start. Gründer Moritz Koch erklärt uns, was sein System so besonders macht.
Moritz, was ist Euer Ziel bei Paidtime?
Wir denken immer wieder darüber nach, wie man der Erosion des Journalismus entgegenwirkt, der immer weniger Geld für seine Leistung bekommt. Dazu suchen wir Modelle, die es den Nutzern ganz leicht ermöglichen, ihren Beitrag zum Journalismus zu leisten.
Seit wann gibt es Euch schon?
Anfang 2014 kam die Idee auf und Ende 2014 haben wir das Projekt angegriffen. Ich war damals noch in einer Agentur dafür tätig, bin dann aber ausgestiegen und in die Firma Paidtime eingestiegen.
Seit wann läuft der Dienst Paidtime?
Ende April 2016. Wir haben ein gutes Jahr gebraucht, um die Plattform zu realisieren. Formal sind wir immer noch in der Beta, aber das Produkt hat schon eine gewisse Reife erreicht. Wir testen es schon länger am Markt.
Warum „Paidtime“, also Bezahlen nach Zeit?
Die meisten Bezahlsysteme verlangen einen bestimmten Betrag pro Beitrag. Wir hatten immer das Gefühl, dass das nicht richtig sei, weil man ja die Katze im Sack erwirbt. Da soll der Leser anhand der Headline und eines Anrisses über den Kauf entscheiden. Wir glauben: Wenn ein Beitrag einen fesselt, dann sollte man auch mehr bezahlen, als wie wenn man nach drei Absätzen merkt: hoppla, das ist nun doch nicht so interessant.
Damit eigentlich ein schlechtes System für News, bei denen ja zu Beginn das Wichtigste stehen soll.
Ich glaube aus einzelnen News kann kein Publisher einen Revenue-Stream ableitenIch glaube aus einzelnen News kann kein Publisher einen Revenue-Stream ableiten. Es sei denn er bietet megaexklusive Infos und setze eine harte Bezahlschranke davor. Die englische Financial Times zum Beispiel hat Financial News für eine klar umrissene Community. Die kann eine extrem hohe Gebühr nehmen, weil sie Inhalte hat, die sonst niemand bietet. Wenn ich aber Infos verbreite, die Andere auch haben, muss ich den Nutzer einladen sich ein bisschen reinzulesen, zu -hören oder zu -schauen, muss also durch eine gute Aufbereitung den Leser fesseln.Lokale und hyperlokale Webseiten und Blogs mit kurzen, eigenständigen und hoch relevanten News wären dann eher ein guter Bereich für eine harte Paywall?
Genau. Wir versuchen es so anzulegen, dass es für jeden Publisher – klein oder groß – funktionieren kann. Auch für jeden Nutzer. Das reine Zeitabrechnungsmodell muss dann nicht unbedingt das Richtige sein. Woran wir aber glauben, ist, dass das Bezahlen nach Zeit ein einfacher Zugang zu unserem Abrechnungssystem ist. Der Publisher kann so ein Publikum an sich binden, denen er noch weitere Abrechnungsmodelle anbietet. Eine Flatrate zum Beispiel – oder wie es früher hieß: Abo. Wenn ich einen hyperlokalen Newsdienst mit exklusivem Inhalt habe, dann kann ich sagen, das zeitbasierte Modell ist an dieser Stelle nicht richtig. Die Nutzer habe ich aber woanders über das Zeitmodell schon akquiriert. Ich kann ihnen nun auch ein normales Online-Abo verkaufen.
Zum Beispiel bei der Westdeutschen Zeitung haben wir neben dem Paidtime-Modell ein normales Online-Abo, das gut angenommen wird. Die Leute denken sich nach einer Weile: Ach das mit der begrenzten Zeit nervt mich jetzt doch, da zahle ich lieber eine Monatsgebühr.
Ihr belohnt also über Paidtime tiefgehende Inhalte, die fesseln und vielleicht nicht so viel Reichweite haben und fördert damit aufwendige Recherchen. Aber für News bietet Ihr auch noch die Abo-Lösung mit an. Kern ist aber die Paidtime?
Wir sind noch dabei herauszufinden, wo der Kern des Erlösstroms sitzt. Ist der Kern die zeitbasierte Abrechnung selbst, oder ist sie nur der Türöffner für ein Abo? Das werden wir bei unseren Kunden messen. Die Zeit- und Aufmerksamkeitsmessung steht freilich im Zentrum. Aber eine Story kann sich ja auch aus mehreren kurzen News oder Artikel zusammensetzen.
Gemessen wird also die Zeit auf der Plattform, also der „Onlinezeitung“?
Wenn sie eine anderen Tab öffnen oder weggehen, müssen sie sich keine Sorgen machen, dass das Taxameter weiter läuft.Richtig. Die Einheit ist die Plattform, aber wir messen auch auf Artikelebene die Aufmerksamkeit: Welche Beiträge wurden schwerpunktmäßig im Rahmen einer Session angesehen? Wir bauen derzeit außerdem Abhängigkeitsanalysen aus. Das zeigt uns: „Leute, die sich dafür interessiert haben, haben sich auch dafür interessiert“. So wollen wir die Nutzer besser verstehen, um zu erkennen, an welcher Stelle sie in den Bezahlmodus einsteigen.Gleichzeitig wollen wir aber auch den Lesern eine faire Zeitmessung ermöglichen. Wenn sie eine anderen Tab öffnen oder weggehen, müssen sie sich keine Sorgen machen, dass das Taxameter weiter läuft.
Wie bekommt Ihr überhaupt raus, wie viel Paidtime derjenige schon abgesurft hat? Per Cookie?
Wir müssen Nutzer immer möglichst eindeutig identifizieren, selbst wenn sie nicht eingeloggt sind. Denn manche Publikationen vergeben ja eine freie Lesezeit. Das müssen wir sauber tracken, auch damit der Nutzer erkennt, dass wir fair und genau sind. Wir arbeiten nicht mit Cookies, sondern mit einem Fingerprint-Verfahren, um den Nutzer damit eindeutig zu identifizieren.
Fingerprint-Verfahren?
Aus den Infos zum benutzten Gerät, Browser und andere Attribute generieren wir einen Fingerabdruck. Das ist eine anonyme ID, Datenschutz-rechtlich unbedenklich, aber eindeutig genug, um denjenigen zu identifizieren, wenn er zum Beispiel eine andere Publikation oder ein anderes Portal ansurft. So kann ich ihn fast überall wiedererkennen.
Das funktioniert aber nicht, wenn er jetzt von Desktop auf Smartphone wechselt.
Nein. Das schaffen nur Google und Co., die alle Geräte eines Nutzers kennen. Aber vielleicht nutzen wir auch irgendwann deren Services, wenn das nötig sein sollte, um die Freetime des Nutzers fair und anonym zuzuordnen.
Adblocker: Wenn der Verlag mit dem Nutzer keine Werbeerlöse erzielen kann, zwingt er ihn in ein anderes ErlösmodellAber bisher klappt es gut so. Wir können Benutzern auch schon unterschiedliche lange Freetime zuordnen. Etwa wenn der Verlag entscheidet, dass ein Nutzer mit Adblocker weniger freie Lesezeit erhalten soll, als jemand, der die Werbung toleriert. Wenn der Verlag mit dem Nutzer keine Werbeerlöse erzielen kann, zwingt er ihn eher in ein anderes Erlösmodell. Dafür haben wir eine Adblock-Differenzierung eingebaut auch mit einem Hinweis für den Nutzer. Das ist eines unserer aus der Erfahrung abgeleiteten Produkte.Irgendwann hat der Leser dann auf jeden Fall seine Freetime verbraucht. Wenn er sich registriert, bekommt er weitere Freetime als Anreiz. Dann haben wir von ihm ein gewisses Profil, das wir Portal-übergreifend wiedererkennen. Der Cross-Login, also ich habe mich hier eingeloggt und bin dann automatisch auch dort eingeloggt, wird damit auch funktionieren.
Ist der Schutz vor Aushebeln des Systems ein großes Thema für Euch?
Wir wissen, es gibt Hacks, um an Paidtime vorbei zu kommen. Für eine kleine Schar ist das ein Sport. Man kann nun beliebig Aufwand betreiben, sich vor solchen Leuten zu schützen. Das führt aber unweigerlich dazu, dass die eingebauten Barrieren irgendwann den ehrlichen Nutzer nerven und behindern.
Jetzt sind wir in Deutschland sowieso so erzogen, dass digitale Inhalte gar kein Geld kosten. Das haben wir 15 bis 20 Jahre durch Spiegel und alle großen Portale gelernt. Das ist für die Portale nun schwer auf faire Weise zurückzudrehen.
Die eingesetzten Werbeformen sind oft grenzwertigDie brauchen diesen Erlösstrom aber. Denn die Einnahmen aus Print sind meist rückläufig, die Einnahmen aus Online-Werbung lassen sich nur bedingt ausbauen. Die eingesetzten Werbeformen sind oft grenzwertig – das wurde einfach übertrieben mit Fullscreenvideo in Autoplay. Das ist schon hardcore. Das hat wieder zur hohen Akzeptanz der Adblocker geführt. Würden wir die Nutzer nun bei Paidtime noch mit Barrieren gegen Betrüger nerven, ginge der Schuss nach hinten los.Ich muss hier mal die Verlage in Schutz nehmen: Soweit ich mich auch aus meiner Zeit bei CHIP erinnere, gab es zwischen 1995 und 2000 kaum praktikable Bezahl-Möglichkeiten im Web für kleinere Beträge. Banner-Werbung hingegen konnte einfach eingesetzt und abgerechnet werden. Zudem war Werbung das bei Verlagen gelernte Modell. Denn ein großer Teil des Geldes wurde auch in Print über Werbung eingenommen. Das auf Online umzusetzen war leichter, als ein Bezahlsystem.
Das ist richtig, aber die Erwartungshaltung, dass Online-Medien kostenlos sind, wurde – Schuld hin oder her – dadurch nun einmal geprägt. Das zu ändern geht auch nicht in kurzer Zeit. Die fragen sich jetzt ja: Warum soll ich nun plötzlich zahlen?
Wenn ich dieses Jahr unter ein Motto stellen würde, ich würde es „Aufstieg des bezahlten Inhalts nennen“. FAZ, Spiegel, Zeit, etc. gehen alle mit ihren „Plus“ angeboten in den Markt. Die Zeit macht das geschickt: Graues Zeit-plus-Zeichen, und der Leser muss sich registrieren, kann den Beitrag aber kostenlos lesen. Rotes Symbol und ich werde zur Kasse gebeten. So locken sie zunächst in die Registrierung, dann in die Bezahlung. Vor noch zwei Jahren hätte ich gesagt: Der Erste, der dicht macht ist tot. Nun agieren aber fast alle Verlage nahezu gleichzeitig, so als hätten sie sich abgesprochen.
Ja, Systeme gab es ja schon länger, wie etwa Laterpay oder Selectyco. Die haben auch stets versucht Modelle für Verlage zu entwickeln, die den Einstieg ins Bezahlsystem erleichtern. Doch erst in jüngerer Zeit passiert richtig etwas. Finde ich gut. Ich hoffe, dass es dazu führt, dass der Journalismus seine Qualität aufrecht erhalten kann.
Du sagtest, ihr seid „ein bisschen beta“. Aber ich weiß ja, dass die Westdeutsche Zeitung schon mit Paidtime abrechnet. Wie viele Publisher habt Ihr denn gesamt?
Wir haben erst zwei. Das zeitbasierte Modell ist eben noch sehr ungewohnt. Da fehlt die Erfahrung, und es gibt eben oft Bedenken bei den Verlagen: Werden langsam lesende Benutzer bestraft? Verstehen die Leser das überhaupt? Wie kann ich das steuern? Ich verstehe die Bedenken auch und versuche sie zu beantworten.
Wir haben im Augenblick noch keinen großen Vertrieb. Wir verbessern unser Modell auf dem Markt derzeit anhand des Nutzer- und Publisherfeedbacks. Wir wollen eine Lösung bieten, die beide Seiten optimal zusammenführt. Darum sage ich auch noch immer, obwohl alles schon läuft, dass wir noch beta sind.
Kann aber schon jeder Publisher – auch Blogger – jetzt schon bei Paidtime einsteigen?
Wir nehmen auch Blogger auf und aktivieren sie innerhalb von 24 StundenWir haben zwar das System zunächst für größere Publisher ausgerichtet, aber ja: auch Blogger nehmen wir auf. Unser Ziel: Bei jedem Publisher aktivieren wir Paidtime innerhalb 24 Stunden. Das ist gar nicht so leicht. Nicht aufgrund von Technik. Es laufen finanzregulatorischen Dinge im Hintergrund ab. Wir müssen Umsatzsteuer-ID-Nummer und Handelsregister haben, um eine Konto anzulegen. Wir schaffen es dennoch in 24 Stunden.Ihr seid also noch im Stealth-Mode, macht erst das Produkt und werbt dann dafür. Nicht wie Flattr, die sich groß auf der Republica angekündigt haben und dann ewig nicht lieferten. Aber nochmal ganz konkret: Ich könnte mich morgen bei Euch anmelden und mitmachen, ja oder nein?
Ja!
Du sagtest: Handelsregisternummer. Ich bin im Vorstand des Bloggerclub e.V. Die meisten unserer Mitglieder sind nicht im Handelregister verzeichnet.
Das müsste ich nochmal prüfen. Im Moment ist das ein Pflichfeld. Aber grundsätzlich wollen wir für beide Seiten die Hürden zum Einstieg so gering wie möglich zu halten. Du, ich rufe einfach mal den Payment-Dienstleister an und schaue, ob man das Handelsregister fallen lassen kann.
(Info: Tatsächlich hat Paidtime dieses Pflichtfeld mittlerweile geändert und man kann auch ohne Handelsregisternummer einsteigen.)
Wo Du gerade Payment-Dienstleister sagst: Welche Möglichkeiten der Bezahlung hat der Nutzer bei Euch?
Lastschrift – ein Verfahren aus dem letzten Jahrtausend.Wir haben im Augenblick diese Verfahren: Paypal, Kreditkarte, Sofortüberweisung und Lastschrift. Letztere ist an sich unkompliziert, aber betrugsanfällig. Eigentlich ein Verfahren aus dem letzten Jahrtausend.Meine Erfahrung: Die Leute lieben Lastschriften. Aber Du hast recht: Neulich hat einer meine Geschäft-Kontonummer einfach bei Ebay eingetragen und damit teures Zeug bezahlt. Das kann man zurückbuchen, aber sicher geht anders.
Wir messen ja auch, mit welchen Payment-Diensten die Zeitpakete in Paidtime gekauft werden. Da ist die Lastschrift tatsächlich gar nicht so wesentlich. Paypal wird sehr häufig verwendet. Dahinter steckt dann oft ja auch die Lastschrift, aber durch Paypal wird es eben sicherer. Wir können natürlich weiter Bezahlverfahren auf Bitte einführen.
Der Leser bekommt eine ordentliche Abrechnung?
Ja, er erhält fast so etwas wie eine Handy-Rechnung mit Einzel-Verbindungsnachweis. Er kauft sich ein Zeitpaket, das er über die verschiedenen Publisher dann absurft, und die sind genau aufgeführt.
Wie groß ist die Nutzerbasis bei Euch mittlerweile?
Wir haben zirka 5.000 User im System.
Wie schwer ist es, Euer System technisch einzubinden?
Du registrierst Dich bei uns als Publisher, bekommst eine ID und ein Stück Javascript mit der ID. Das baust Du in das Portal ein. Ab dann geht alles vollautomatisch. Es gibt noch Zusatzfunktionen, wie die Adblocker-Messung, auch als Code. Alles per Copy und Paste. Für WordPress bauen wir wahrscheinlich demnächst ein Plugin.
Und ich brauche keine Angst haben, dass zum Beispiel die Google-Suche ausgesperrt wird?
Nein. Der Inhalt steht für Suchmaschinen offen und wir haben keine Veränderung bei SEO gemerkt.
Letzte Frage. In einer Kritik zur Westdeutschen Zeitung las ich: „es ist das schrillionste Mini-Guthaben, das man irgendwo im Internet hat und wieder vergisst.“ Warum setzt Ihr Euch jetzt aber doch durch?
Ich glaube, wir bringen Publisher und Nutzer im ausgewogenen Kräfteverhältnis zusammen. Publisher sind verständlicherweise sehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Wir sind Anwalt des Nutzers und versuchen ihm das Angebot des Publishers so zu eröffnen, dass es dem Nutzer Spaß macht. Denn am Ende setzt sich eben die Lösung durch, die vom Nutzer akzeptiert werden. Da legen wir den Fokus darauf und glauben, dass wir uns damit durchsetzen. Aber wir wissen freilich nicht, was die Zukunft bringt. Vielleicht gewinnen auch die Dienstleister das Spiel, die die größte Vertriebsmannschaft auffahren und unfair spielen. Wir glauben eben aber an die nutzerzentrierte Annäherung.
Moritz, ich danke Dir.
Moritz Koch (44) hat bei SinnerSchrader im Financial Services Bereich angefangen. 2009 hat er eine eigene Gesellschaft innerhalb der SinnerSchrader-Gruppe gegründet, die E-Commerce-Betreibermodelle bei Unternehmen etablierte. So hat er im Mittelstand operative Erfahrungen gesammelt. Als Prof. Dr. Tobias Krohn für Medienökonomie und Kersten Köhler von der Westdeutschen Zeitung (???) mit einer Idee zur Zeitmessung zum Zwecke der Monetarisierung von Medienangeboten. Der Start für Paidtime.