Was Journalisten heute lernen müssen: Nach vorne sehen, offen für Neues sein und Mut zeigen
8Ein wundervoller Text von unserer Gastautorin Christiane Brandes-Visbeck zu Timo Stoppachers Blogparade „Was Journalisten heute lernen müssen“
Von Christiane Brandes-Visbeck
Warum wehren sich Menschen und insbesondere Journalisten gegen Neues? Diese Frage beschäftigt mich seit meinem ersten Artikel, den ich als Studentin in Göttingen über einen wissenschaftlichen Kongress für eine überregionale Tageszeitung geschrieben hatte. Der zuständige Redakteur schnaubte vor Wut, druckte das „Pamphlet“ dennoch ab und gab mir nie wieder einen Auftrag.
Ich war entsetzt. Was war falsch? Ich wollte es wissen! Mutig schickte ich den Text (per Fax) an den Ressortleiter Wissenschaft beim „Spiegel“. Noch am selben Tag bekam ich einen Anruf mit der Frage, ob ich bei ihm ein Volontariat absolvieren wolle. Ja, so ginge Schreiben heute. Davon wolle er mehr.
Seitdem habe ich immer wieder Regeln gebrochen. Meist nicht mit Absicht und oft auch ohne zu wissen, in was für unangenehme Situationen ich den einen oder anderen damit gebracht habe. Meist fühlte ich mich moralisch im Recht: Ich habe doch nur das gemacht, was logisch war. Ich war innovativ. Und mutig. Sind das nicht die Eigenschaften, die von Journalisten gefordert werden?
Heute verstehe ich jeden, dem es nicht so leicht fällt, sich auf Neues einzustellen.Heute verstehe ich jeden, dem es nicht so leicht fällt, sich auf Neues einzustellen. Damals wie heute ist es schwer, mit Journalismus seine Brötchen zu verdienen, wenn man sich zu weit nach vorne traut. Ich empfinde unsere Gesellschaft als auffallend zögerlich, wenn es darum geht, Neues auszuprobieren. Ist ja vielleicht auch verständlich. Denn als „die Deutschen“ vor einem guten halben Jahrhundert mal mutig waren und etwas radikal Neues machen wollten, haben sie voll ins Klo gegriffen.Diese Erfahrung bleibt in den Genen, wird von Generation zu Generation weitergetragen. Und dennoch beobachte ich bei vielen, vielen Journalisten dieses vorsichtige Interesse an dem Neuen, den Spaß am Testen und die Freude, wenn man weiß, wie es funktioniert. Die Digitalisierung bietet so viele Chancen für das Nachrichtengeschäft.
Für Menschen, die Spaß daran haben, mit neuen Content-Formaten zu experimentieren, ist es eigentlich (!) eine großartige Zeit. Ich denke da an die mit Herzblut produzierte Zeitungs-App „Abend“ von Cordt Schnibben, die fein formulierten Tweets von Frank Schirrmacher, die viel beachteten Tumblr-Blogposts von Stephan Plöchinger zum Digitalen Morgen oder an das geniale Leak-Gezwitschere von Kai Diekmann, mit dem er irgendwann sicherlich einen bekannten PR-Award gewinnen wird.
Seit einem halben Jahr unterrichte ich „Medienübergreifendes Publizieren“ für angehende Onlineredakteure. An diesen Kursen nehmen vornehmlich Uni-Absolventen und gestandene Medienschaffende teil. Einst erfolgreiche Herstellungsleiter und Produktioner, Lektoren und Printjournalisten, die sich auf ihrem Gebiet einen Namen gemacht haben, neben Digital Natives, die mit Sozialen Medien vertraut sind und seit Jahren über ihre Hobbies bloggen.
Wir sind immer noch im Land der Perfektionisten.Sie alle haben Angst davor, gesehen zu werden. Im Neuen, im Ungekannten. Die wehren sich mit Händen und Füßen vor der potentiellen Blamage, dem Nichtgenügen, der Häme der anderen. Normal, oder? Wir sind immer noch im Land der Perfektionisten. Im tiefen Herzen wollen wir immer noch dem Qualitätssiegel „Made in Germany“ genügen und stolz sein können auf unser Arbeit. Logisch, oder?Für meine Kurse habe ich eine Analogie gefunden, die funktioniert. Die Gamer und Storyteller unter Ihnen und Euch werden sie kennen: Die Heldenreise!
Und die geht so: Wir leben im Tag (dem Bekannten) und müssen in die Nacht wandern (dem Unbekannten, hier der Job im digitalen Umfeld).
Am Übergang vom Tag in die Nacht entstehen viele innere und äußere Konflikte. Man wehrt sich gegen das Unbekannte, erfindet Gründe, warum alles Neue überflüssig und unsinnig ist, kämpft mit allen Mitteln für den Status quo. Doch hier an der Grenze zwischen Tag und Nacht finden sich auch Hilfen. Man kann Unterstützer gewinnen und Instrumente finden und gewappnet in die Nacht wandern.
Jeder möchte jetzt ein Held sein und mehr oder weniger mutig ins Unbekannte wandern.Auf dem Weg wird man erkennen, ob es das Richtige ist. Vielleicht kehrt der eine oder andere um. Aber die, die weitergehen, werden auf jeden Fall belohnt.Diese Analogie beflügelt. Jeder möchte jetzt ein Held sein und mehr oder weniger mutig ins Unbekannte wandern. Alle gehen weiter. Das ist immer mein Gänsehaut-Moment.
Was Journalisten heute lernen müssen? Aus meiner Erfahrung ist es wichtig, nach vorn zu sehen, offen für Neues zu sein und immer ein bisschen Mut zu zeigen. Dabei hilft es sehr, seine Weggefährten und Hilfsmittel mit Bedacht auszuwählen und nicht zu ungeduldig zu sein.
Nach einer langer Zeit des Wartens erleben wir gerade die Zeit großer Veränderungen im Journalismus. Es ist eine Superchance. Wir sollten sie nutzen!
(Und ich bin übrigens nicht zum „Spiegel“ gegangen, habe auch andere großartige Angebote ausgeschlagen, weil ich entweder zu ängstlich oder zu mutig war.)
Über die Autorin
Christiane Brandes-Visbeck ist eine erfahrene Journalistin (TV, Online, Print, Social Media), TV-Produzentin und Medienmanagerin aus Hamburg, die mit ihrer Agentur Ahoi Consulting als Digitale Kommunikationsberaterin und Social-Media-Vermittlerin unterwegs ist: www.ahoi-consulting.de. Sie unterrichtet über Kommunikation und Medienarbeit an diversen Hochschulen, Weiterbildungsinstituten und der Akademie für Publizistik. Seit 2012 arbeitet Brandes-Visbeck an einer transmedialen Karriere-Show für Kids. Dieses Herzensprojekt über crossmediales Storytelling entwickelt sie gemeinsam mit enthusiastischen Weggefährten – in ihrer Freizeit, selbst finanziert und transparent: www.ambitioustv.de.
Danke für diesen aus meiner Sicht sehr schönen Artikel. Spätestens beim Thema „Heldenreise“ hattest Du mich.
Da möchte ich noch zwei weitere Charaktere vorstellen, die sich in der Heldenreise tummeln:
– Der Mentor: Ihn trifft der Held an der Schwelle und er hilft dem Helden auf seiner Reise – ob das Virgil bei Dantes Inferno oder Obi Wan in Star Wars ist. Hier hätten vielleicht die Verleger helfen können, doch ich glaube, die gehören eher zur zweiten Kategorie, nämlich …
– Der Haltefest: Meist der Tyrann, der alte König, etc, der sich gegen Neues wehrt und um jeden Preis den Status quo erhalten will.
Dazu hat auch mein Bruder, der dem Thema Storytelling sehr zugetan ist, einen Beitrag auf seiner Seite verfasst:
http://www.goldmann.de/heldenreise-autoblog_tipp_1160.html
Danke, Stephan, für die weiteren Charaktere zu meiner kleinen Heldenreise. Passen gut ins Bild.
Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom … ;)
Mutig und aufgeschlossen sein gegenüber Neuem? Gab es je eine Zeit seit Erfindung der Zeitung, in der Journalisten – okay, für die Anfänge vielleicht noch einzugrenzen auf das Arbeitsfeld Reporter – das nicht mussten?
Was bitte soll denn heute so neu sein? Die Angst vor der Blamage? Mag ja für journalistische Frischlinge im Internet mit seinem leichten Zugang heute der Fall sein. Aber mal ehrlich: es ist doch völlig piepe, ob ich mich auf gedrucktem Papier, aus einem Radiolautsprecher tönend, im Beitragsinsert aufflackernd oder eben auf einem PC-Schirm blamiere oder eben nicht. Das kann doch wohl kaum ein Kriterium sein.
Eher schon der Qualitätsanspruch! Denn je leichter Zugang zur Öffentlichkeit ist, je weniger Hürden eines Gatekeepings, kritisch manuskripte durchsehender Kollegen, „redaktionelle Filter“ überwunden werden müssen, desto leichter dringt eben auch mal Un- oder Halbdurchdachtes – oder, schlimmer noch, -recherchiertes in den öffentlichen Raum. Wie man das handhabt, ist aber eine Frage persönlicher Disziplin, nicht technischer Instrumente! Ich kann mit einem Gewehr mein Essen jagen oder in den Krieg ziehen. Ich kann, weil’s schnell und unkontrolliert geht, Blödsinn in den öffentlichen Raum qua Internet absondern, oder ausgewogene Manuskripte nach sorgfältiger Recherche und Strukturierung relevanter, die Geschichte tragender Fakten veröffentlichen – in jedem Mediium so wie im Netz.
Mir wird deswegen die medientechnische Seite unseres Berufs viel zu hochgespielt. Zum eigenen Schaden! Wie las ich neulich? Keine andere Berufsgruppe schafft es so wie Journalisten, ihre eigenen Grundlagen derart niederzumachen…oder so.
Dem – traurig genug – gibt es m. E. nur wenig hinzuzufügen.
[…] Weitere Beiträge aus der Blogparade: Christiane Brandes-Visbeck, […]
Ich hab dazu auch mal was aufgeschrieben: http://blog.rhein-zeitung.de/25285/zuruf-kommt-mit-in-die-mobile-digitale-zukunft-kollegen/
Vielen Dank für den Beitrag. VG Timo Stoppacher
Ich hoffe, dass ich es nicht mehr miterlebe, dass Kai Diekmann irgendeinen ernstzunehmenden Preis gewinnt. Aber in unserer heutigen Gesellschaft kann man nie sicher sein (ich sage nur der Bambi-Bushido, auch wenn es sich dabei um keinen ernstzunehmenden Preis handelt)