Bin ich noch Journalist?
6„Ich bin Journalist.“ Das ist meine Antwort, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt. Meistens bekomme ich dann bewundernd aufgerissene Augen zu sehen und höre ein „Oh, das ist ja spannend.“
Vermutlich haben meine Gesprächspartner in diesem Moment ein Bild von mir vor Augen, wie ich mit Splitterschutzweste und im Kugelhagel in Gaza oder Afghanistan aufregende Kriegsgeschichten recherchiere – oder ganz investigativ den nächsten Skandal rund um Politiker/ Banker/ Versicherungsvertreter/ Industrielle/ Stars/ Lebensmittelproduzenten aufdecke.
Tja, so ungefähr hatte ich mir auch das Leben als Journalist auch vorgestellt, als ich mich als 14-Jähriger für diesen Beruf entschied. Doch heute ist meine letzte investigative Geschichte schon ziemlich lange her, bin ich weit davon entfernt, ein Bob Woodward zu sein. Viel – aber nicht alles – von meinem jugendlichen Idealismus ist Pragmatismus gewichen.
Immer häufiger stelle ich mir deshalb die Frage:
Bin ich eigentlich noch Journalist?
Das letzte mal, als ich die Kommentare zu Stephan Goldmanns LousyPenny-Beitrag über „richtigen Journalismus“ verfolgt habe.
Nun ja, schauen wir mal, was die gefühlt von deutschen Journalisten am häufigsten genutzte Quelle sagt, die Wikipedia:
Ein Journalist [ʒʊrnaˈlɪst] ist jemand, der sich „hauptberuflich an der Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Massenmedien beteiligt“ (Definition des Deutscher Journalisten-Verbandes).
Beschäftigen wir uns also zunächst damit, was heute eigentlich ein Massenmedium ist. Ist eine Internet-Seite eigentlich schon in dem Moment ein Massenmedium, in dem sie Online geht? Immerhin hat sie ja eine technische Reichweite von einigen Milliarden, auch wenn sie vielleicht nur aus Mitleid von meinem engsten Freundeskreis aufgerufen wird. Oder ist eine Spezial-Zeitschrift mit vielleicht 3.000 Lesern Käufern bereits ein Massenmedium? Oder doch lieber ein Blog, der auf 50.000 Besuche (visits) im Monat kommt?
Man sieht, es ist schwieriger geworden…
Man lernt außerdem in der Wikipedia, dass die Berufsbezeichnung Journalist gesetzlich nicht geschützt ist. Jeder kann sich Journalist nennen, der in einem (Massen-)Medium, gleich welcher Art, etwas veröffentlicht – ganz ohne Journalistenschule, Studium oder Volontariat.
Für mich bedeutet das im Umkehrschluss, dass jeder, der sich Journalist, nennt, alles dafür tun sollte, zumindest seinem persönlichen Bild eines Journalisten zu entsprechen. Und natürlich gibt es neben dem wichtigen Selbstverständnis eines Journalisten eine Reihe von Fertigkeiten, die man als Journalist beherrschen sollte – ebenso wie es viele Tätigkeiten gibt, die urjournalistisch sind.
Beschäftigen wir uns nun mal konkret mit den Projekten, mit denen ich mich aktuell hauptberuflich beschäftige. Denn zum einen will ich ja der Frage nachgehen, ob ich mich noch Journalist nennen darf – zum anderen glaube ich, dass viele Kollegen einen ähnlichen Mix nutzen, um ihre Lousy Pennies zu verdienen. Zumindest sofern sie sich nicht in einer bis zur nächsten Freisetzungsrunde „sicheren“ Festanstellung bei einem Verlag befinden.
So sieht es also aktuell bei mir aus:
- Ich produziere Kiosk-Zeitschriften und Kunden-/Mitarbeiter-Medien/Magazine
- Ich schule und trainiere Jungjournalisten und Firmen-Mitarbeiter in den Bereichen Text und Social Media
- Ich schreibe Pressemitteilungen
- Ich texte Webseiten und
programmierebastele WordPress-Seiten - Ich blogge auf Lousypennies.de und als bezahlter, anonymer Texter für Kunden
- Ich arbeite als Textchef und Textcoach für verschiedene Medien
- Ich schreibe ab und zu Artikel für Print- und Online-Medien – zur Zeit eher selten
- Gerade haben wir mit www.tagesbriefing.de unser erstes redaktionelles Online-Produkt gestartet und möchten bald noch mehr machen
- Ich engagiere mich unentgeltlich als Mentor für drei Studenten der Ludwigs Maximilians Universität München – und plane ein Schreib-Seminar im nächsten Semester zu geben
All das unter dem Dach der Firma, die ich mit zwei Kollegen aus alten Milchstraßen-Tagen betreibe.
Macht mich das zum Journalisten?
Ich bin mir nicht mehr ganz sicher.
Aber ich gestehe: Tief in meinem Herzen bin ich Journalist und werde es immer bleiben.
Als Journalist habe ich die ganze Welt gesehen und wahnsinnig viele interessante Menschen getroffen. Bereits als 21-Jähriger konnte ich für den Focus investigativ arbeiten – Danke dafür an Uli Baur, der mir das zugetraut hat. Bei Tomorrow habe ich das neue Medium Internet fast von Anfang an begleiten dürfen und konnte sogar – auf Einladung von Apple – Steve Jobs in San Francisco und Tokio live bei seinen berühmten Keynotes erleben. Ähnliches habe ich bei allen weiteren Arbeit- und Auftraggebern erlebt und tue es bis heute.
Kein Wunder also, dass Journalist für mich der schönste Beruf der Welt ist.
Und ja, bei allem was ich tue, um meine Lousy Pennies zu verdienen, setze ich ureigenste Werkzeuge und Fertigkeiten des Journalismus ein:
Recherche auch über die Wikipedia hinaus, sogar mit dem Telefon. Interview-Techniken. Nutzen der verschiedenen journalistischen Stilformen. Das Denken in Stories (irgendjemand aus dem Corporate-Bereich hat dafür auch den Begriff Storytelling geprägt) und Artikel-Aufbau. Quellen checken und ein gesundes Misstrauen bei allem, was einem so erzählt wird. Die Auswahl von Bildern, die den Leser gefangen nehmen – und und und…
Ob ich nun wirklich noch Journalist im Sinne der „reinen Lehre“ bin, weiß ich nicht. Vermutlich wäre „Medienmacher“ eine bessere Bezeichnung.
Doch wenn Ihr mich jetzt fragen würdet, was ich von Beruf bin, würde ich immer wieder antworten:
Journalist.
Nehmt Ihr mir das noch ab?
Ich probier’s mal so: Ein Facebook-Like heißt ja. Und ich freue mich sehr auf Eure Meinung in den Kommentaren.
Bin ich noch Journalist? Gute Frage. Ich würde sie mit „Auch“ beantworten. Ich betreibe einen Shop – bin also auch Verkäufer. Ich schalte Anzeigen – bin also auch Vermarkter. Ich pflege und erweitere die Plattformen, auf denen ich meine Texte veröffentliche – ich bin also auch Programmierer.
Man könnte es steuerlich sehen: Wenn ich ausschließlich Rechnungen stelle, auf denen ich korrekterweise 7 Prozent Mwst. verzeichne, dann bin ich Journalist.
Auf meinem Gewerbeschein steht allerdings „Tätigkeit im Internet“, weil das die im Amt so wollten. Wenn mich aber jemand fragt, dann sage ich meist etwas wie „Publisher“. Schon alleine um das gesamte Tätigkeitsfeld darzustellen.
Ich bin ja für Offenheit, auch wenn sie mal wehtut – eine Freundin von mir hat mir auf diesen Post folgende Worte per privater Nachricht geschickt. Netterweiser nicht öffentlich. Ich finde Kritik an sich aber so wichtig bei diesem Lernprozess, dass ich mich entschieden habe, den Kommentar ohne Angabe des Urhebers zu posten. Ich hoffe, sie verzeiht mir das.
Hier ihr Kommentar:
„Nun machst Du ja sehr viele verschiedene Sachen, da ist sicher auch Journalismus dabei. Tagesbriefing.de gehört für mich allerdings definitiv nicht dazu. Nichts für ungut, aber das finde ich als Projekt für Lousy Pennies („mit gutem Journalismus Geld verdienen“) ziemlich enttäuschend.“
Hallo Karsten,
danke für diesen klasse Beitrag. Meine Meinung: Du bist noch Journalist – und zwar nicht nur im Herzen.
Ich glaube, es gibt sehr viele freie Journalisten „da draußen“, die so aufgestellt sind wie du – und sich leider dafür rechtfertigen müssen, dass sie mit Text/PR-Arbeit ihr Geld verdienen. Diejenigen, die sagen „Journalisten machen keine PR“ leben in der Regel von den 8 Milliarden Euro pro Jahr, die sich die öffentlich-rechtlichen Sender per Zwangsgebühr reinschaufeln.
@Deine unbekannte Freundin: Wieso soll der Versicherungsbrief kein gutes journalistisches Produkt sein? Warum ist es „enttäuschend“? Ich finde es richtig gut. Eine klare Zielgruppe (es gibt wahrscheinlich zehntausende Versicherungsmakler u.a.), ein klares Konzept. Mit solchen Newslettern sind turi2 oder perlentaucher sehr erfolgreich.
@Stephan: Ok, als Shopbetreiber bist du aber auch ein Gewerbetreibender. Was nicht heißt, dass du auch als Autor arbeiten kannst. Aber es ist dann nochmal ein Unterschied zum freiberuflichen Journalisten, der PR/Coaching/Seminare/Beratung macht.
Das ist eine harte Meinung Deiner Bekannten – und sie führt zu nichts, außer zu Enttäuschung. Ich frage mich, warum sie so denkt, wovor hat sie Angst? Dass ihr Selbstverständnis als Journalistin vielleicht nicht mehr passt? Dass sie sich selbst unter Umständen bald vor ähnlichen Fragen sieht wie Du?
Reine Spekulation jetzt.
Hallo Karsten,
spätestens dann, wenn man eine Familie unterhalten muss und Haus-/Wohnungs-/Autokredite bedient werden wollen, weicht der anfängliche Idealismus einem gesunden Prakmatismus/Realismus. Man muss sich – zumindest als Freiberufler – breiter aufstellen. Und dazu gehört auch, neue Dinge auszuprobieren – warum nicht ein News-Portal für die Versicherungswirtschaft? Weil das das so eine Bäh-Branche ist, auf die man zwar angewiesen ist, mit der man aber eigentlich nichts zu tun haben will? Diese Argumentation wäre ziemlich scheinheilig.
[…] Journalistischer Anspruch und Corporate Publishing passen eigentlich hervorragend zusammen, wie ich finde. Wer LousyPennies aufmerksam liest, weiß, dass ich selbst ja einen Großteil meines Lebensunterhalts mit Corporate-Publishing-Projekten (und Content Marketing!) bestreite – und mich im fortwährenden Selbstzweifel frage, ob ich da eigentlich noch Journalist bin. […]